Tote und Überlebende

„Ich hatte zwei Brüder. Adolf ist im Oktober 1943 … in Russland gefallen. Am 7. Januar 1945 war der Geburtstag meiner Mutter. Wir haben abends Rührkuchen gegessen, wie man das damals so machte. Da kam der Ortgruppenleiter ins Haus und klopfte an die Tür. Als meine Mutter den Mann sah, hat sie angefangen zu schreien: Da wusste sie schon, dass er die Nachricht vom Tod meines Bruders August brachte. Das war drei Monate vor Ende des Krieges. Dann sollte mein Vater Anfang März ’45 noch zum Volkssturm eingezogen werden. Mein Vater hat gesagt: ‚Meine beiden Jungs sind schon tot, ich halte nicht auch noch meinen Kopf hin.‘
Ich war bei meiner Tante in der Kulle, als die Amerikaner anfingen, Oberkaufungen mit Artillerie zu beschießen. Nachbarn hatten aus dem Dach mit Ferngläsern nach Aufklärern… Ausschau gehalten und die Amerikaner nahmen an, es gäbe hier eine Soldatenstellung… Mein Onkel sagte ‚Du gehst jetzt nicht nachhause, Du bleibst bei uns im Bunker!‘ Ich bin aber trotzdem während des Beschusses nachhause gelaufen und sah schon, wie die Lichtmasten umgestürzt und die Telefondrähte kaputt waren und auch zahlreiche Einschläge… Als ich auf der Höhe kurz vor unserem Garten gewesen bin, da hörte ich meine Mutter schon schreien. Ich bin gerannt und sah, es war ein Artillerie-Einschlag in unserem Haus. Ich bin in die Wohnung gelaufen und da lag meine Mutter auf der Erde neben meinem Vater und mein Vater war tot…
Als wir dann morgens aus dem Bunker herauskamen, da brannte unsere Scheune. Das Vieh schrie, aber die Türen waren durch Trümmer verstellt. Wir haben erstmal das Vieh befreit und im Garten laufen gelassen.
Wir dachten, wir müssen ja löschen, sonst brennt das Wohnhaus mit dem toten Vater auch noch ab. Wir haben Eimer genommen und – wie in Schillers ‚Glocke’ beschrieben – versucht, mit einer Eimerkette aus dem gegenüber liegenden Mühlgraben Wasser zu schöpfen, um das Feuer zu löschen. Das war ein ziemlich hilfloses Unterfangen. Alle [Nachbarn] hatten ja Angst und wollten lieber im Bunker bleiben… Dann haben wir einen langen Wasserschlauch in der unteren Wohnung angeschlossen…
Als ich dort stand auf dem Dachboden, kamen die Amerikaner mit Maschinenpistolen im Anschlag den Hundeberg herunter. Mir war das alles egal, ich hatte keine Angst. Ich war wie in Trance und habe in die Scheune gespritzt.
Alle Dorfbewohner mussten sich nun in der Stiftskirche versammeln. Die Amerikaner kamen auch zu uns und haben den toten Vater gesehen. Sie haben zu uns gesagt ‚no church‘, damit wir das Wohnhaus löschen konnten.
Das Erlebte hat meine Mutter irgendwie zerbrochen. (Ihr Bruder war ja auch 1918 noch gefallen.) Das war für mich als junges Mädchen schwierig. Ich habe gesagt ‚Mutter, ich bin doch auch noch da!‘, aber für meine Mutter zählten nur die Toten.“ Lisa E., geb. 1930