Angst um das behinderte Kind

„Lieselotte ist ein Mongoloid. Diese Kinder waren bei der Partei nicht gern gesehen.“ Elisabeth B., Erinnerungen, nach 1945.
Lieselotte B. (1935-2000), war das älteste von vier Kindern im Bauernhof an der Ecke Mühlgraben / Windhäuser Straße.
„Lieselotte war immer mittendrin“, erinnert sich ihre jüngere Schwester Anni S. Sie war „sehr beliebt, weil sie ein fröhliches Kind war. Sie ist den ganzen Friedhof runter mit der Jippe [kleiner Lastenschlitten], sie hatte nie Angst. Und sie konnte spielen! Ich konnte nie spielen, weil ich es nicht gelernt hatte, ich musste immer arbeiten.“
„In den ersten Jahren des Krieges wurde ein Kindergarten eröffnet, und zwar im Jugendheim. Die Leiterin war Mitglied in der Frauenschaft der Partei. Eines Tages kamen Rudolf u. Anni nach Hause u. sprachen: wir dürfen die Lieselotte nicht mehr mit in den Kindergarten bringen. Da blieben Anni u Rudolf auch zu Hause. Es hat mir schwere Sorgen gemacht. Zum Glück bekam die Leiterin einen besseren Posten bei der Partei. … [Der Kindergarten erhielt eine neues Haus und eine neue Leiterin.] Da bin ich zu ihr gegangen, habe Anni und Rudolf angemeldet u. mit ihr über Lieselotte gesprochen. Sie fragte mich ob sie nicht sauber wäre oder ob sie sich mit den Kindern nicht verträge? Ich sagte ihr, dass das nicht der Fall wäre: Da sprach sie, dann sollte Lieselotte ruhig kommen. Sie ist gern in den Kindergarten gegangen.“ Elisabeth B.
„Meine Schwester kriegte im Alter Schübe, da hat sie Tag und Nacht geschrien. Sie hat einen Platz im Altersheim gekriegt. Dann kam eine junge Frau vom Medizinischen Dienst auf den Hof und fragte, wo sie in der Behindertenwerkstätte gewesen war. Da wurde meine Schwägerin wütend: ‚Haben Sie keine Ahnung, wann sie gelebt hat? Sie hat im Krieg gelebt, meine Schwiegereltern haben sie behütet, andere Kinder sind umgebracht worden!‘“ Anni S. Vielleicht hat Lieselotte geschützt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der ehemaligen Mühle im Ort angesehen und gut vernetzt waren.