Hintergrund
Mobbing 1936
„Solange der deutsche Gruß ‚Heil Hitler!‘ allgemein gebräuchlich ist, ebenso lange ist auch hier bekannt, daß Frau G… diesen deutschen Gruß nicht respektiert, sondern mit ‚Guten Tag‘ usw. erwidert.“ Weil sie unangepasst grüßte, wurde die Oberkaufungerin Wilhelmine Sophie G., geb. 1888, im Herbst 1936 von ihrem Bürgermeister beim Sondergericht des Oberlandesgerichtsbezirks Kassel angezeigt: „Dabei ist es ihr gleichgültig, ob es sich um eine uniformierte oder sonstige Zivilperson handelt, an der sie eben vorübergeht oder sie damit zu tun hat. Hierüber sind die gesamte Einwohnerschaft und selbst die Kinder unterrichtet, und es ist ebenso lächerlich wie beschämend, wenn die Kinder sich ein Hehl daraus machen, einmal Frau G… zu begegnen, die mit stupider Selbstverständlichkeit auf den deutschen Gruß nur immer ‚Guten Tag‘ oder ‚Guten Abend‘ usw. erwidert. Dies ist auch bis zum Tage noch der Fall, obwohl von allen möglichen Personen bisher versucht worden ist, Frau G… auf alle Fälle auf anständige Bahn zu geleiten und sie außerdem zum deutschen Gruß zu veranlassen.“
Für den Oberkaufunger Bürgermeister stand fest, dass sie „eine staatsfeindliche Einstellung besitzt, die in ihrer evtl. Auswirkung nicht geduldet werden kann.“ Denn Wilhelmine Sophie G. verweigerte ein „Heil Hitler“ aus religiösen Gründen. Sie gehörte der Glaubensgemeinschaft der ‚Ernsten Bibelforscher‘ an und nahm, wie ihre Glaubensgenossen, nicht an Wahlen teil. Deswegen war die gebürtige Kaufungerin im Frühjahr 1936 verfolgt worden: Nachbarn hatten drei Tage nach der Reichstagswahl ihre Wohnung belagert. Der wohl vorab informierte Ortspolizist konnte sie damals nicht „in Schutzhaft nehmen“, da sie sich bereits „in die Feldmark zurückgezogen“ hatte.
Frau G.s Tochter wurde ein Job als Stenotypistin verweigert, weil sie mit ihrer politisch „nicht zuverlässigen“ Mutter zusammenlebte.
Der Kasseler Staatsanwalt stellte das Verfahren ein.
Wilhelmine Sophie G. starb 1964 andernorts. Wo und wie sie die Diktatur überlebte, wissen wir nicht.